Köln 10. März 2017 Das Kompetenzzentrum Selbstbestimmt Leben (KSL) für den Regierungsbezirk Köln nimmt Stellung zu den in der RTL-Sendung „Team Wallraff“ vom 23. Februar 2017 geschilderten Missständen in mehreren Einrichtungen für Menschen mit Behinderung und setzt sich schwerpunktmäßig mit der Frage auseinander, wie solche Vorfälle und Verhältnisse in Zukunft ausgeschlossen werden können.
Die Berichterstattung in der RTL-Sendung „Team Wallraff“ hat die aktuelle Betreuungssituation von behinderten Menschen zum Thema gemacht. Die dramatischen Bilder zeigen sehr deutlich die Haltung mancher Betreuerinnen und Betreuer gegenüber behinderten Menschen und aufgrund der Bilder ist es jetzt nicht mehr möglich, Ausreden oder beschwichtigende Erklärungen zu finden. Ja, diese Bilder waren so aussagekräftig, dass diejeweilige Einrichtungsleitung reagierenund die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden müssen.
Aber ist es damit getan sich aufzuregen? Reicht es aus, die im Film gezeigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeitsrechtlich zu sanktionieren? Ist es nötig, sich gegenseitig anzugreifen und dem jeweils anderen die Schuld zuzuschreiben? Wer hat was gewusst? Wer hat nicht reagiert?
Aus Sicht des KSL Köln muss der Fokus darauf gelegt werden, dass ein erneu-tes Entstehen derartiger Verhältnisse und Zustände für die Zukunft möglichst ausgeschlossen werden kann. Hierzu müssen die Rahmenbedingungen in de-rartigen Einrichtungen in vielerlei Hinsicht drastisch verändert werden.
Fakt ist, dass viele behinderte Menschen in Einrichtungen der Behindertenhilfe aufwachsen und leben; diese wirken oft so zusammen, dass eine „totale Insti-tution“ im Sinne Goffmans entsteht, in der ganz eigene Regeln herrschen. Be-hinderte Menschen werden dort betreut, unterstützt und gefördert. Es gibt eine klare Hierarchie – nämlich (nichtbehinderte)Betreuerinnen und Betreuer oben und behinderte Menschen unten. Dieoben stehenden Betreuerinnen und Betreuer sagen, wer, was, wann und wie macht. Behinderte Menschen werden immer noch primär an ihren Defiziten gemessen und beurteilt; andere Menschen sprechen ihnen Fähigkeiten ab und ordnen sie spezifischen Behinderungsgruppen zu. Wie sollen behinderte Menschen in einem solchen Kontext lernen, sich selbst zu vertreten und eigene Wünsche, Rechte und Bedürfnisse zu äußern?Auch heute noch werden ihnen diese häufig abgesprochen (so wie es auch in diesem Film zu sehen ist, z.B. bei der Frage, wieviele Butterbrote gegessen werden dürfen). Es fällt schwer zu glauben, dass die Leitungsebenen der Wohnheime und der Werkstätten von der Haltung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nichts wissen.
Die eigentliche Frage, die sich hier stellt, ist, welche grundsätzliche Haltung steckt dahinter? Innerhalb der gezeigten Einrichtungen greift „Verrohung“ in Wort und Tat um sich. Diese Verrohung ist so an der Tagesordnung, dass sie den Verantwortlichen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, aber auch den Angehörigen und den gesetzlichenBetreuerinnen und Betreuern der dort untergebrachten behinder-ten Menschen oftmals gar nicht mehr auffällt und sie diese Zustände deshalb gar nicht mehr thematisieren oder gar verändern können.
Deshalb ist dringend erforderlich, behinderte Menschen als selbstbestimmte Individuen wahrzunehmen, dieihre Rechte kennen, sich dieser bewusst sind und deren Umsetzung einfordern dürfen und sollen; sie hierzu zu befähigen, diese Rechte zu kennen und dafür einzustehen, ist eine ganz wichtige Aufgabe. Dazu sind in den Einrichtungen den behinderten Menschen unabhängige Ansprechpartnerinnen und -partner zur Verfügung zu stellen, die ihnen – parteilich – zur Seite stehen und nur ihnen gegenüber verpflichtet sind.
Wichtig ist hierbei: Die grundgesetzlich garantierte Menschenwürde sowie Selbstbestimmungsrechte sind nicht an geistige Leistungsfähigkeiten geknüpft, sondern stehen den Betroffenen allein aufgrund des Menschseins zu. Dies gilt auch für Menschen mit dementiellen Erkrankungen oder kognitiven Einschrän-kungen.Ein Absprechen dieser Rechte stellt immer, auch wenn es rein fürsorg-lich intendiert ist, eine Verletzung der Menschenwürde der Betroffenen dar.
Umgekehrt ist es genauso wichtig, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in derarti-gen Einrichtungendie Möglichkeit zu geben, sich an unabhängige Vertrauens-personen innerhalb und außerhalb der Einrichtung wenden zu können, um he-rabwürdigende Handlungen und Haltungen melden und sich Unterstützung ho-len zu können. Es ist dringend erforderlich, dassin den Einrichtungen regelmä-ßig Supervision und Fortbildungen/Weiterbildungen durchgeführt werden, um Haltungen und Einstellungen gegenüber behinderten Menschen zu reflektieren und positiv weiterzuentwickeln. Wie häufig wird in Teamsitzung oder in Pausen abfällig über Verhaltensweisen von behinderten Menschen gesprochen, die doch als „Schutzbefohlene“ in der Einrichtung verweilen.
Behinderten Menschen sind Experten und Expertinnen in eigener Sache und sie müssen in alle Entscheidungsprozesse mit einbezogen werden. Eine wirkliche Auseinandersetzung kann nur auf „Augenhöhe“ stattfinden und deshalb sollten z.B. behinderte Menschen an Teamsitzungen in den Einrichtungen teilnehmen. Sie benötigen ein wirkliches Mitspracherecht, wie das z.B. in vielen Unternehmen der freien Wirtschaft der Betriebsrat hat.
Aufgrund unserer langjährigen Kompetenz in der Unterstützung von Menschen mit Behinderungwürden wir gerne alle Beteiligten dabei unterstützen, Prozesse in Gang zu setzen, in denen die Rechte aller behinderter Menschen gewahrt werden und ein selbstbestimmtes Leben möglich ist.
Es ist uns darüber hinaus ein großes Anliegen, diein den Einrichtungen tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dabei zu unterstützen ihre Haltung gegenüber behinderten Menschen zu reflektieren und gegebenenfalls zu hinterfragen. Wir bieten uns gerne an, die notwendigen Veränderungsprozesse fachlich zu begleiten.
Die Stellungnahme gibt es hier als Download.